Montag, 26. Dezember 2011

BOMBEN GEGEN BETENDE MENSCHEN (Betrachtung)

In Nigeria versammeln sich Menschen in Kirchen, Brüder und Schwestern in Christo, um die Geburt des Heilands zu feiern. Sie beten und singen, zu Ehren Jesu und seiner Botschaft der Liebe und Vergebung. Dann zerfetzt eine Bombe ihre Leiber,reisst 35 von ihnen in den Tod. Man ist sprachlos, hilflos, ratlos.

Sonntag, 25. Dezember 2011

DAS MENSCHENKIND MIRIAM (Dramatische Weihnachts-Geschichte)

Miriam schwamm in einem Pool, auf den die Sonne warm schien, das Wasser war wohlig warm. Ihre Eltern waren am Rande des Pools und gaben ihr ein Gefühl der Geborgenheit. Doch plötzlich verfinsterte sich der Himmel, und ihre Eltern waren verschwunden; sie war mutterseelenallein. Dann nahm sie etwas bedrohlich wirkendes wahr, das sich unter ihr ins Wasser schob. Angst kam in ihr auf, und sie wollte fliehen, den Pool verlassen, aber sie konnte nicht heraus, denn über ihr war eine schwere Glasplatte, die kein Entkommen zuließ. Sie merkte, dass das Wasser absank und erkannte, es wurde von dem bedrohlichen länglichen Gegenstand aufgesaugt. Ihre Angst wurde immer größer, und Panik begann von ihr Besitz zu ergreifen. Der Wasserspiegel sank und sank. Das Element, in dem sie sich gerade noch so geborgen gefühlt hatte, wurde weniger und weniger. Sie vermeinte Stimmen zu hören, die jedoch kaum zu verstehen waren, so als würden sie durch Berge von Watte zu ihr dringen. Schließlich war das Wasser vollständig aus dem Pool entwichen und ließ sie völlig schutzlos auf dessen Grund zurück. Sie wusste nicht, ob sie erleichtert darüber sein sollte, dass auch der bedrohliche Gegenstand verschwand. Wie ein langes, sich verjüngendes Rohr aus Edelstahl sah er aus, dies konnte sie noch erkennen, bevor er ganz verschwunden war. Obwohl es unter der Glasplatte warm war, begann sie zu zittern. Sie fühlte sich so ausgeliefert und fürchtete sich vor etwas, von dem sie ahnte, dass es kommen würde, jedoch wusste sie nicht was es sein würde, nur dass es gefährlich sein würde. Dann tauchte der rohrähnliche Gegenstand wieder auf, er schob sich einfach durch die Mauer ins Poolinnere. Immer wieder vernahm sie dumpf Stimmen, die von hinter den Kacheln zu kommen schienen. Wo waren ihre Eltern? Warum schützte sie niemand? Aus der Öffnung des Gegenstandes ergoss sich Wasser in den Pool, der sich rasch wieder zu füllen begann. Das Wasser kam zurück. Sollte ihre Ahnung sie getäuscht haben, wurde hier nur ein Schabernak mit ihr getrieben? Als es sie erreichte zuckte sie zusammen. Es war sehr unangenehm an ihrer Haut. Jetzt nahm sie auch wahr, dass es ganz anders roch, nicht so angenehm wie das Wasser welches eben abgesaugt wurde. Sie krabbelte schnell in die letzte freie Ecke des Pools und wusste doch, sie würde dem ausgeliefert sein, das da nun kam. Da wo die nun einströmende Flüssigkeit sie schon berührt hatte juckte es stark und brannte auch leicht. Das war kein Wasser, zumindest kein normales. Immer stärker schoss es hinein, und der Pegel begann rasch anzusteigen. Schließlich schwamm sie bereits darin und fing vor Verzweiflung und Pein an zu weinen. „Mama, Mama“, rief sie halb weinend, halb schluchzend. Doch niemand war da, sie war völlig allein und schutzlos ausgeliefert. Die ersten Spritzer drangen an ihre Lippen, es schmeckte extrem salzig, sodass sich ihr Mund zusammenzog. Sie verschloss fest ihre Augen, um sie davor zu schützen. Als schließlich die Glasplatte erreicht war, da drang es auch durch ihren Mund in ihr Inneres und verursachte dort höllische Schmerzen. Sie wurde immer panischer, bekam keine Luft mehr. Letztendlich, drohte sie zu kollabieren. Als sie mit ihrem Leben abschloss und bereits leblos unter der Glasplatte schwamm, brach plötzlich eine Wand des Pools ein und der gesamte Inhalt ergoss sich mit ihr nach draußen. Da lag sie nun, nackt und von höllischen Schmerzen überzogen. Aber sie war noch nicht tot. Anfangs schwach, dann immer stärker, versuchte sie zu schreien. Mit schwachen Bewegungen demonstrierte sie sich selber, dass noch Leben in ihr war. Auf einmal nahm sie das hübsche Antlitz einer jungen Frau wahr, welches Verwunderung, aber auch verzweifeltes Mitleid zeigte. Die Frau telefonierte mit irgendjemand. „...Erdrosseln, ich soll sie erdrosseln? Ich kann das nicht...“ Miriam erschrak zutiefst und begann Mitleid erregend zu weinen und zu schluchzen. Dann wachte sie auf und war erleichtert, wie so oft schon, es war nur ein böser Traum; wieder mal. Sie stand auf und schaute aus dem Fenster auf die Straße. Draußen war es noch dunkel, dennoch konnte Miriam alles erkennen, da es in der Nacht geschneit hatte und nun die Stadt von einer dicken weißen Schneeschicht überzogen war. Um die Laternen, deren gelbliches Licht, zusammen mit dem Winterweiß, ein anheimelnd schummeriges Bild vor dem schwarzen Nachthimmel produzierten, tanzten wild unzählige dicke Schneeflocken herum, auf ihrem Weg zum Boden. Mitten in dieses Schneegestöber hinein, tauchte das rotierende Licht eines Räumfahrzeuges auf, das sich schwerfällig durch den Schnee kämpfte. Miriam erkannte, dass es Unmengen waren, es musste die ganze Nacht hindurch so stark geschneit und lautlos die Stadt in diese Märchenlandschaft verwandelt haben, dachte Miriam bei sich. Eine kindliche Freude erfüllte ihr Inneres und plötzlich war die Restmüdigkeit und der Schrecken des Albtraumes wie weggeblasen. Schnell duschte sie sich, zog sich an und, nachdem sie ein schnelles Frühstück verzehrt hatte, machte sich auf den Weg zur Arbeit. Sie war froh, dass ihre Eltern noch schliefen; sicher war ihr Wecker mal wieder einfach ausgefallen. Ja, dieser alte Wecker, hatte schon soviel Ärger verursacht, und doch verließen ihre Eltern sich immer wieder auf ihn, anstatt endlich einen neuen zu kaufen. Miriam musste schmunzeln. Wären die beiden wach gewesen, sicher hätte Dad darauf bestanden sie zu fahren, bei dem Wetter. Aber das wollte sie ja nicht, sie genoss es so sehr, durch den tiefen Schnee und das Schneegestöber zur Bushaltestelle zu gehen. Ihr Herz jauchzte vor Glück und Freude, denn sie liebte den Schnee. Jetzt war es gar nicht mehr so tragisch, dass sie heute arbeiten musste. Heute war der 24. Dezember, und es war nicht nur Heiligabend, es war auch ihr Geburtstag. Sie empfand es immer schon als große Ehre, an diesem Tag geboren worden zu sein, und dieses Wetter jetzt, das krönte alles noch. Vergessen waren ihre Behinderungen, der humpelnde Gang und die stets lauernden Gleichgewichtsstörungen. Sie stapfte durch die weiße Winterwunderwelt, schaute lächelnd zum Himmel auf und dankte Gott für dieses Geschenk. Im Supermarkt, in dem Miriam als Auszubildende arbeitete, war heute gewaltig was los. So viele Leute wollten auf den letzten Drücker noch Besorgungen erledigen. Doch während ihre Kolleginnen stöhnten, strahlte Miriam vor Glück und innerer Freude. Sie war zwar heute besonders Fröhlich, doch auch sonst strahlte sie meist Freude und Zuversicht aus, weswegen sie von allen gemocht wurde. Auch die Kunden fanden immer wieder anerkennende, freundliche Worte für sie. Manch einer, der mit ernstem Gesicht in das Geschäft kam, verließ es wieder mit einem Lächeln, nachdem er mit Miriam zusammengetroffen war. Sie hatte eine unbekümmerte, offene und liebenswürdige Art auf Menschen zuzugehen. Über ihre Behinderungen machte sie eher Witze, als dass sie darüber jammerte, was ihr oftmals die Bewunderung ihres Umfeldes einbrachte. Schließlich war es soweit, der Feierabend war da. „Wenn du magst, fahre ich dich nach Hause“, rief eine Stimme hinter ihr. Miriam drehte sich um und blickte in das lächelnde Gesicht ihrer Kollegin Leila. „Danke, Leila, aber das wäre doch ein riesiger Umweg für dich. Das möchte ich nicht.“ „Ach was, zerbreche dir mal nicht meinen Kopf. Wenn ich es dir anbiete, dann kannst du das ruhig annehmen. Du hilfst anderen soviel, da mache ich das gerne.“ „Das ist wirklich lieb von dir, aber...“ „Nix aber“, unterbrach Leila sie, „ich fahre dich. Außerdem fahre ich heute zu meinem Bruder, da ist der Umweg sowieso nicht ganz soweit“ Leila sah Miriam mit einem herausfordernden Grinsen an, und machte dabei eine lockende Geste mit der Hand. „OK!“, sagte Miriam, worauf Leila mit dem rechten Auge kniff und die Türe aufhielt. Im Frühling und Sommer, wenn Leila auf die Straße trat, verdrehten sich alle Männer ihren Hals um dieser Schönheit hinterherzuschauen, doch jetzt, im Winter, bei diesem Schneegestöber, da war die Welt auf den Kopf gestellt. „Du fährst nicht zu deinen Eltern?“ fragte Miriam, während sie in Leila's Käfer einstieg. „Meine Eltern sind auch bei meinem Bruder“, antwortete Leila, und fügte hinzu, „wir fahren mal zu meinem Bruder, dann mal zu Onkeln und Tanten, dann wieder kommen die anderen zu meinen Eltern und mir, jedes Wochenende woanders. Und du wirst mit deinen Eltern zusammen schön Weihnachten feiern?“ „Ja“, erwiderte Miriam, „ich freue mich schon sehr darauf.“ „Ich als Muslimin, auch wenn ich jetzt nicht so super religiös bin, habe mich für euer Weihnachtsfest nie sonderlich interessiert. Vielleicht liegt das auch daran, weil ich kein Freund von Kitsch bin, und alles, was ich so beiläufig von diesem Fest mitbekomme, sehr viel Kitsch aufweist. Manchmal frage ich mich, wieviele Christen überhaupt noch wissen, was sie da eigentlich genau feiern.“ Miriam wollte etwas erwidern, doch Leila redete weiter. „Eigentlich interessiert mich das auch nicht weiter, aber Du bist ein guter Mensch, Miriam. Und ich wünsche Dir, dass Du mit Deiner Familie wunderschöne Feiertage haben wirst. Außerdem wünsche ich Dir zum Geburtstag, alles Liebe und Gute.“ Leila nahm die Rechte Hand vom Lenkrad weg, holte ein kleines Päckchen mit Schleife hervor und hielt es Miriam hin. Miriam nahm es sichtlich bewegt an sich und schaute Leila liebevoll an, die ihren Blick kurz lächelnd erwiderte, um dann aber wieder durch die Windschutzscheibe ins Schneetreiben zu schauen, und aufs Fahren zu achten. „Danke, Leila! Ganz herzlichen Dank. Ich weiß nicht, was ich sagen soll.“ „Ach was, pack einfach aus“, erwiderte Leila. Miriam öffnete das Päckchen und entnahm einer kleinen Plastikdose mit Innenpolsterung eine goldene Kette mit Anhänger, auf dem etwas eingraviert war. „Das ist Persisch“, erklärte Leila. „Das heißt übersetzt, du bist etwas besonderes. Dreh es mal um.“ Miriam tat was Leila sagte und las auf der Rückseite eingraviert: Schön, das es dich gibt, Miriam. „Ich bin sprachlos“, sagte Miriam. „Aber, Leila, ich kann das nicht annehmen.“ „Warum das denn?“ fragte Leila. „Naja, wir bekommen doch nur unser Lehrlingsgehalt, und das hier ist doch Gold. Ich meine...“ „Ach Quatsch“, unterbrach sie Leila, „das geht schon in Ordnung. Wenn du das nicht annimmst, dann bin ich wirklich böse mit dir.“ „Ach mensch, Leila, ich danke dir wirklich sehr.“ Miriam drückte kurz ihre Wange seitlich gegen Leilas Oberarm. „Ich wünschte, mehr wären so wie du, dann wäre es um diese Welt anders bestellt“, sagte Leila, während sie rechts ran fuhr und anhielt. „Da wären wir. Ich wünsche Dir einen schönen Geburtstag und schöne Feiertage“, sagte sie, und schaute Miriam lächelnd an. Miriam erwiderte das Lächeln und fragte, „möchtest Du nicht mit reinkommen, ein Stück Kuchen essen und einen Kaffee trinken?“ „Danke, aber ich muss los, meine Familie wartet schon auf mich. Außerdem, wenn das weiter ununterbrochen so stark schneit, dann komme ich mit dem Auto nicht mehr weit.“ „Ja“, stimmte Miriam zu, „sowas gab es hier wirklich noch nie. Wäre es Regen, könnte man von Sintflut sprechen.“ Sie verabschiedeten sich, mit Küsschen auf die Wangen, dann fuhr Leila, noch einmal kurz winkend, weiter. Miriam sah, wie sich der Käfer mühsam durch den Schnee schob, der seitlich weggedrückt wurde, wie die Bugwellen eines schnell fahrenden Bootes. Dann verschwand Leilas Wagen hinter dem dichten Vorhang aus herabsegelnden Schneeflocken. Als Miriam in die elterliche Wohnung eintrat, empfing sie wohlige Wärme, Kaffeeduft und ihr Kater Mikesch, den sie einst aus dem Tierheim holte, und der sich nun gerade an ihre rechte Wade schmiegte. Aus dem Wohnzimmer drangen leise die Klänge von O du fröhliche an ihr Ohr. Sie zog Stiefel, Schal und Mantel aus, schlüpfte in ihre Pantoffeln und ging, mit Mikesch auf dem Arm, ins Wohnzimmer, wo ihr Vater, Karl, gerade dabei war den letzten Schmuck am Christbaum anzulegen. Ihre Mutter, Ellen, kam aus der Küche und schaute sie vorwurfsvoll an. „Warum hast du nicht gewartet? Dein Vater wollte jetzt losfahren um dich von der Arbeit abzuholen. Hast dich bei diesem Schneechaos selber auf den Weg gemacht. Ach Gott, Kind, was hätte da passieren können.“ Ihr Vater drehte sich zu ihr um und schenkte ihr ein herzliches Lächeln. „Da ist ja unser kleiner Sonnenschein. Deine Mutter hat Recht, ich wollte in der Tat jetzt losfahren, dich abholen. Aber du bist eine Kämpferin, das stand schon bei deiner Geburt fest. Fahren denn die Busse so pünktlich bei diesem Wetter, dass du jetzt schon hier sein kannst, oder hattet ihr früher Feierabend?“ „Weder noch“, antwortete Miriam. Und ihr könnt euch beruhigen, Leila hat mich nach Hause gefahren. „Ach, das ist aber nett von ihr“, stieß Ellen aus. „Leila, das ist doch dieses hübsche persische Lehrmädchen, nicht wahr?“ fragte sie nach. „Mama, Leila ist keine Perserin. Ihre Großeltern sind damals aus politischen Gründen aus Persien hierher geflohen, als Mossadegh gestürzt wurde, zu dessen Anhängern ihr Großvater zählte. Leila ist hier geboren und aufgewachsen.“ „Naja, aber sie hat doch persische Wurzeln“, warf Ellen ein. „Ist schon OK, Mama, ich weiß schon was du meinst.“ Als Miriam zu ihrem Vater schaute kniff der ihr ein Auge. „Aber das mit der Kämpferin, Papa, das ist schon richtig. Ich hätte auch kein Problem damit gehabt, mit dem Bus nach Hause zu fahren. Kann es denn etwas schöneres geben, als eine solche Winterhölle genau zum Heiligabend?“ Karl grinste und warf letzte Lamettafäden über den Weihnachtsbaum. „Wir machen uns halt Sorgen, Kind“, sagte Ellen. „Mama, ich bin doch kein Kind mehr, heute ist mein 18. Geburtstag.“ „Ja, die Zeit vergeht“, seufzte Karl, während er die Krippenfiguren aufstellte. „OK, was haltet ihr davon, wenn wir jetzt Kaffee trinken?“, fragte Ellen. „Oh, ja“, erwiderte Miriam, „da habe ich mich schon drauf gefreut.“ „Setz dich, Schatz“, sagte Karl zu Miriam, deutete mit der Hand auf das Sofa und folgte Ellen in die Küche. Miriam machte es sich auf dem Sofa bequem und streichelte Mikesch, der laut schnurrte und die Augen zukniff. Dann kamen ihre Eltern aus der Küche, Ellen mit einer Geburtstagstorte und Karl mit der Kaffeekanne. Karl hätte Miriam auch gerne das Geburtstagsgeschenk gegeben, doch wie jedes Jahr hatte Miriam darum gebeten, dieses zur Bescherung unter den Weihnachtsbaum zu legen. Nachdem Miriam die Kerzen ausgeblasen hatte, genossen sie die Torte und den frischen Bohnenkaffee. Sie erzählten sich von ihrem Tag und sprachen gerade über das beispiellose Schneetreiben draußen, als sie vernahmen, wie der Radiomoderator berichtete, dass in mehreren Städten, so auch in ihrer, der Strassenverkehr total zum erliegen gekommen sei, teilweise sogar Räumfahrzeuge im Schneechaos liegenblieben. Mancherorts sei es bereits zum Einsturz von Dächern gekommen. Der Moderator sprach vom stärksten Schneeniederschlag an einem Tag, seit hundert Jahren, und dass über das Gebiet der Notstand verhängt worden sei. Das Militär sei angewiesen worden, in den am schlimmsten betroffenen Orten mit eigenem Gerät zu helfen. „Wie gut, dass wir wegen der Weihnachtstage viel mehr eingekauft haben, und unsere Schränke voll sind“, sagte Karl, „wer weiß was da noch kommt, und wann wir wieder zum Einkaufen kommen.“ Es schellte an der Wohnungstüre. Karl wollte aufstehen, doch Ellen machte mit der Hand eine Geste, dass er sitzen bleiben solle, und ging selber. „Und?“ sagte Karl zu Miriam und schaute sie fragend an. „Was, und?“ „Na, wenn ich dich anschaue, dann sehe ich eine glückliche junge Dame. Aber...“ „Aber?“ unterbrach in Miriam lächelnd, und kraulte dabei Mikesch, der mittlerweile rücklings in ihrem Schoß lag, und das Wellnessprogramm laut schnurrend,mit geschlossenen Augen genoss. „Aber da ist noch was. Ich spüre, dass dich etwas im inneren stark beschäftigt. Willst du darüber reden?“ Miriam überlegte kurz. „Ach weißt du, Daddy...“. Karls Gesicht wurde ernster; Daddy nannte sie ihn immer nur, wenn sie überglücklich war, oder Sorgen hatte. Ansonsten sagte sie seit Jahren schon einfach Dad. „Ach, Daddy, ich hatte wieder diesen schrecklichen Alptraum, der mich mein ganzes Leben schon zu verfolgen scheint.“ „Vor drei Tagen“, sagte Karl, „ja, das hattest du mir aber schon erzählt, am nächsten Tag noch“. „Nein, Daddy, letzte Nacht hatte ich ihn schon wieder.“ Karl krampfte es das Herz zusammen, als er Miriams Antlitz so bekümmert sah, das eben noch so glücklich strahlte. „Es ist einfach schrecklich, Daddy. Ich meine dann immer ersticken zu müssen und meine Haut, Augen und der Rachen brennen wie Feuer. Ich erleide Höllenqualen um dann endlich, völlig nassgeschwitzt, aufzuwachen. Ich versuche immer wieder eine Erklärung dafür zu finden, warum ich all die Jahre immer und immer wieder den gleichen Traum habe, alle paar Tage. Ich frage mich, ob es dann aufhören würde, würde ich eine Erklärung finden.“ Ellen kam herein und hatte einen Teller mit einem Christstollen darauf in der Hand. „Den Stollen hat Frau Diemer von nebenan uns gebacken. Außerdem wünscht sie uns ein frohes Fest.“ „Das ist aber nett von ihr“, sagte Karl. „Hast du sie nicht gefragt, ob sie kurz mitreinkommt?“ fragte Miriam. „Ja, hab ich, aber sie meinte, sie hätte noch viel zu tun. Sie haben Besuch über Weihnachten.“ Ellen ging auf Miriam zu, nahm die Hand von ihr, die gerade Mikeschs Pfote streichelte, und legte ein kleines Geschenkpäckchen hinein. „Das soll ich dir von Frau Diemer geben, zu deinem Geburtstag. Für den den Sonnenschein in unserem Haus, zum Geburtstag, sagte sie.“ Ellen warf Karl ein Lächeln zu, der es erwiderte. „Ach, Frau Diemer“, sagte Miriam liebevoll. „Pack's doch aus“, sagte Karl. Miriam tat es und hielt schließlich einen vergoldeten Anhänger mit Kette in der Hand. Dieser Anhänger stellte eine Sonne dar, mit Augen Nase und Mund, die so zufrieden lächelte, wie man es ansonsten nur von Buddafiguren kennt. Umrahmt wurde sie von lauter runden, gewellten, langen Spitzen, die ihre Strahlen darstellen sollten. Ein kleines Kärtchen lag noch bei, auf dem Miriam las: „Dieser Anhänger soll dir zeigen, wie wir dich sehen, und er soll allen anderen zeigen, dass du Sonnenschein in deinem lieben Herzen trägst. Zu deinem 18. Geburtstag alles Liebe und Gute, dies wünscht dir Familie Diemer.“ Miriam war sichtlich berührt. „Das ist so lieb“, sagte sie, und fügte hinzu, während sie den Anhänger in ihrer Hand betrachtete „aber das kann ich doch nicht annehmen“. „Doch, glaub mir, das kannst du“, sagte Ellen. „Das kommt von Herzen. Und wenn du es nicht annimmst, würdest du sie sehr verletzen.“ „Aber dann gehe ich jetzt eben rüber und bedanke mich persönlich“, sagte Miriam, und erhob sich auch schon, nachdem sie Mikesch sachte auf das Sofa platziert hatte, der vom plötzlichen Abbruch des Verwöhnprogramms nicht gerade begeistert war. Halb verschlafen hüpfte er schließlich vom Sofa und begab sich zu seiner Hausbar, in einer Ecke der Küche, wo immer ein paar Snacks und Drinks bereitstanden. Ellen hatte ihm gerade einen Milch-/Wassercocktail zubereitet. Ja, hier wusste man, was ein richtiger Kater wie er liebt. Er genehmigte sich einige Schlucke und verzog sich dann auf seinen Kratzbaum. Karl nutzte die Abwesenheit Miriams aus und erzählte Ellen von Miriams neuerlichem Alptraum, und ihrer hoffnungslosen Suche nach einer Erklärung „Das arme Kind“, sagte Ellen mit besorgter Miene. „Ellen, ich, ich meine, wir sollten mit ihr reden“. „Nein, Karl“, erwiderte Ellen aufgeregt. „Und überhaupt, heute, an ihrem 18. Geburtstag und Weihnachten?“ „Ja, heute, jetzt“, antwortete Karl in bestimmendem Tonfall, und schaute Ellen an, dass ihr klar war, er würde hier nicht abweichen von seiner Überzeugung. Die Wohnzimmertür ging auf und Miriam trat ein. Sie bemerkte die sorgenvollen Mienen der beiden. „Ist etwas passiert?“ fragte sie. „Und, hast du mit Frau Diemer gesprochen?“ erkundigte sich Ellen, die nur das Thema wechseln wollte, und versuchte dabei ein ungezwungenes Lächeln aufzusetzen. „Ja, hab ich“, antwortete Miriam, dabei prüfend den Blick zwischen Karl und Ellen hin und her wendend. „Frau Diemer sprach auch beiläufig meine Behinderung an, und wie viel Achtung sie davor habe, dass ich trotzdem so zielstrebig meinen Lebensweg gehe. Und sie meinte, ich hätte ein gutes Herz .“ „Das hast Du auch“, stießen Ellen und Karl fast zeitgleich aus. Miriam lächelte verschämt. „Sagt mal bitte, ich habe nie gefragt warum ich eigentlich diese Behinderungen habe; das Humpeln und die Gleichgewichtsstörungen blieben mir ja bis heute. Warum ich gerade heute frage, ich weiß es nicht, aber...“ Miriam machte eine kurze Pause, als suchte sie nach der richtigen Formulierung einer Frage, die sie doch vielleicht schon so viel früher hätte stellen können, müssen, sollen. Sie wusste es nicht, Aber sie wollte es jetzt wissen. „Woher kommen meine Behinderungen, welche Ursache hat das? Ist bei meiner Geburt etwas schiefgegangen? Bekam ich als Baby irgendeine Krankheit?“ Sie nahm Mikesch auf den Arm, der sich schon wieder an ihre Beine schmiegte, und schaute ihre Eltern fragend an. Karl blickte zu Ellen, machte mit der Hand eine ausladende Geste in Richtung Miriam, und nickte, als wolle er damit sagen: Da hörst du es selber, wir müssen mit ihr reden. Ellen blickte besorgt. „Karl,... Geburtstag,.... Weihnachten“, sagte sie beschwörend in seine Richtung. „Wir haben es uns geschworen“, erwiderte er. „Was habt ihr euch geschworen?“ fragte Miriam und sah sie verwundert an. „Redet ihr über mich?“ „Ja, Kind“, antwortete Ellen, legte ihr eine Hand auf die Schulter und führte sie zum Sofa. „Setz dich, Schatz, wir müssen dir etwas erzählen“, sagte sie. Miriam setzte sich auf das Sofa, mit Mikesch auf dem Arm, der es sich dann wieder rücklings auf ihrem Schoß bequem machte um dann erneut von Miriam an Brust und Bauch gekrault zu werden. Ellen und Karl setzten sich jeweils links und rechts von ihr daneben. Von draußen drang laut das Läuten der Glocken durch die weihnachtlich geschmückten Fenster. „Was ist los, was wollt ihr mir erzählen? Ihr macht mir Angst“. „Du brauchst keine Angst haben, Sonnenschein“, sagte Karl und nahm ihre Hand. Ellen nahm die andere Hand, drückte sie ganz fest und lächelte sie mit feuchten Augen an. Mikesch, schon wieder der verwöhnenden Hände Miriams beraubt, schaute kurz wo diese denn geblieben waren, ließ den Kopf dann resignierend zurücksinken, blieb aber weiter auf Miriams Schoß liegen, darauf hoffend, dass Miriam bald weitermachte. „Was,... was ist denn?“, fragte Miriam mit unsicherer, fast ängstlich klingender Stimme. Sie sah, dass sich in Ellen´s Augen mehr und mehr das Wasser zu sammeln begann. Eine sachte ansteigende Flut, die die Deiche, die ihre Augenlider bildeten, bald überwinden würde, um sich als dann über ihre Wangen zu ergießen. „Weißt du“, setzte Karl an, „wir haben sehr mit uns gerungen, deine Mutter und ich, wann und ob wir es dir überhaupt erzählen sollen.“ „Was denn?“, fragte Miriam, nun sichtlich nervös. „Bitte, lass deinen Vater erklären“, sagte Ellen und schaute sie mit einem Blick an, der eine Mischung war, aus Traurigkeit, Mitgefühl und Sorge. „Wir haben es uns nicht leicht gemacht“, fuhr Karl fort. Schließlich einigten wir uns darauf, dass du ein Recht darauf hast, und wir es dir erzählen, wenn du – ein gewisses Alter und entsprechendes Verständnis vorausgesetzt – das erste mal ganz konkret jene Frage stellst, die du nun eben an uns gerichtet hast. Allerspätestens wollten wir es dir aber erzählen, wenn du dir ein völlig eigenständiges Leben aufgebaut hast und mit beiden Beinen fest im Leben stehst. Wir haben uns dies geschworen. Trotzdem hatte deine Mutter Bedenken und wollte es heute nicht, um dich an deinem Geburtstag und zu Weihnachten nicht damit zu belasten. Doch Schwur ist Schwur“. Er schaute kurz zu Ellen herüber, um dann wieder Miriam anzuschauen, in deren Kopf es heftig arbeitete. „Außerdem, so denke ich, ist der Zeitpunkt im Gegenteil gut geeignet, da wir nun ein paar Tage zusammen sind. Niemand von uns muss zur Arbeit und, wie es aussieht, wir können wohl auch erstmal kaum raus, bei diesem Wetterphänomen. Ein Winter, wie du ihn dir immer zu Weihnachten ersehnt hast, Schatz. OK, kommen wir also zur Sache. Es gab da mal eine junge Frau, ein Teenager von 17 Jahren; unerfahren, unvernünftig, leichtlebig, verantwortungslos. Zu ihren Gunsten sei erwähnt, dass sie einen Freund hatte, der fünf Jahre älter, aber noch verantwortungsloser war. Sie wurde von ihm schwanger, wusste aber wohl nicht was sie machen sollte. Sie wollte kein Kind, sie wollte das Teenagerleben, beziehungsweise ihre Vorstellung davon, auskosten. Aber sie traute sich nicht, sich an irgendjemanden zu wenden, und wartete und wartete. Auch ihr Freund wollte kein Kind, und je sichtbarer die Schwangerschaft wurde, desto mehr Druck übte er auf sie aus, etwas dagegen zu unternehmen. Sehr spät erst, im achten Schwangerschaftsmonat, wendete sie sich dann an eine bekannte Klinkik für Schwangerschaftsabbrüche. Man erklärte ihr, dass auch eine Spätabtreibung durchaus möglich und gängige Praxis sei. So kam es dann. Der Dienst habende Abtreibungsarzt durchstieß die Fruchtblase und saugte das Fruchtwasser ab.“ In diesem Moment schellte es wieder. Als wenn sie dankbar wäre für diese Unterbrechung, sprang Ellen auf und eilte zur Wohnungstür. „Daddy, was um Himmels Willen wollt ihr mir erzählen?“ fragte Miriam, sichtlich irritiert. Karl setzte zu einer Antwort an, als Ellen zurückkam. „Die Nachbarn wollen eben den Eingang zum Haus von Schnee freiräumen, weil der schon wieder kniehoch liegt, und sie fragten an, ob wir mithelfen.“ „Aber nicht jetzt, Ellen“, erwiderte Karl. „Ja, ich sagte, dass es jetzt absolut nicht geht“. Das Telefon klingelte, und Ellen, die gerade daneben stand, ging ran. „Schwarz“, meldete sie sich. „Ja, Christian, hallo. Was ist los? Willst Du Bescheid sagen, dass ihr später kommen werdet? Ja, heftig das mit dem Schneefall. Im Radio sprachen sie von Notstand. Was? Ach du meine Güte. Nein! Ja, natürlich. Schade! Nein, das muss man akzeptieren. Miriam und Karl werden traurig sein. Ja, aber wir telefonieren heute Nacht noch, ja? Hoffentlich bricht das Telefonnetz nicht auch noch zusammen. Ja, sicher, richte ich aus. Grüße du auch Charlene und die Kinder. Ja, um zwölf Uhr rufen wir euch an. Bis später dann. Bye!“ Ellen legte auf und wendete sich Karl und Miriam zu, die sie ahnungsvoll anstarrten. „Onkel Christian und Tante Charlene kommen nicht?“ fragte Miriam betrübt. „Nein“, antwortete Ellen, „sie können einfach nicht. Draußen steht es wohl viel schlimmer als wir dachten. Die Schneeräumdienste sind total überfordert. Onkel Christian sagte, im Fernsehen hätten sie gerade berichtet, dass jetzt auswärtige Einsatzkräfte angefordert wurden. Heute Nachmittag verlor der Fahrer eines Räumfahrzeugs die Orientierung und beschädigte drei PKW vor ihrem Haus, auch Christians Wagen ist dabei; der Schaden ist enorm. Doch an Fahren ist auf den Straßen sowieso nicht mehr zu denken. Nicht mal zu Fuß kommt man draußen noch klar. Charlene und die Kinder konnten mit dem Hund schon nicht mehr richtig Gassi gehen, er musste notgedrungen vor der Haustüre sein Geschäft verrichten. Flug- Bahn- und Busverkehr sind komplett eingestellt worden, und die Behörden rufen zum sparsamen Umgang mit Strom auf, da es zu Problemen mit der Stromversorgung kommen könnte. Außerdem sollen die Bürger Decken, Kerzen, Taschenlampen und so weiter bereit halten. Es sei sogar schon zu Dacheinstürzen gekommen, wie sie ja auch schon im Radio erwähnten.“ „Also, wird diese Weihnacht ganz, ganz anders verlaufen, als wir geplant haben“, seufzte Karl. „Ja“, erwiderte Ellen, „und das in jeder Hinsicht“. Sie schaute dabei vielsagend auf Miriam, die etwas traurig dreinblickte. „Machen wir das beste draus“, sagte Karl. „Dann machen wir uns eine gemütliche und besinnliche Weihnacht zu dritt, nur wir drei, ganz für uns.“ „Und Mikesch“, fügte Miriam hinzu. „Ja, und Mikesch natürlich auch“, sagte Karl lächelnd und schaute auf den Kater, der schnurrend auf Miriams Schoß lag. „OK, wie wäre es mit einem Eierpunsch?“ fragte Ellen. „Ja, das wäre toll“, sagte Miriam. „Dem schließe ich mich an“, antwortete auch Karl. „Ich soll euch beide übrigens herzliche Grüße ausrichten, von Onkel Christian“, sagte Ellen, bevor sie in der Küche verschwand, um sich um den Eierpunsch zu kümmern. „Warte, ich helfe dir“, sagte Karl, und folgte ihr. Als dann später alle einen ersten Schluck des warmen Getränkes gekostet hatten, sagte Miriam, „bitte erzähle nun weiter Dad.“ „Ja“, meinte Karl, „soll ich wirklich, oder doch lieber später mal.“ „Nein, Karl“, meinte Ellen, „jetzt hast du schon soviel erzählt, jetzt mach auch weiter. Das arme Kind ist doch sonst total irritiert.“ „Ja, ich möchte jetzt gerne alles erfahren, wenn es mit mir zu tun hat“, fügte Miriam hinzu. „Ja, natürlich. Wie dumm von mir“, sagte Karl, und er nahm wieder Miriams Hand. Auch Ellen nahm wieder die andere Hand. „OK“, setzte Karl an, „wo war ich stehen geblieben? Ja, bei dem Fruchtwasser. Also, bei dieser Art von Spätabtreibung verläuft es so“, setzte er noch mal neu an, „dass das Fruchtwasser aus der Fruchtblase abgelassen wird...“ Karl räusperte sich; man merkte ihm an, dass es ihm schwer viel weiter zu erzählen. „Dann wird stattdessen eine stark konzentrierte Kochsalzlösung in die Fruchtblase eingefüllt...“ Wieder machte Karl eine Pause, sammelte sich. Ellen fing zu schluchzen an und wieder sammelte sich das Wasser in ihren Augen. Miriam wurde nun sehr unwohl zumute. Ihr Gesicht verlor seine Farbe und in ihrem Kopf jagten sich Gedanken, Bilder und Emotionen. Mit einem verzweifelten Blick schaute sie erst zu Ellen, dann zu Karl, dem es nun noch schwerer fiel, weiterzuerzählen. „Nun, diese Kochsalzlösung führt in der Regel dazu, dass das Baby äußerlich und innerlich schwere Verätzungen erhält, die zu seinem Tod und frühzeitiger Geburt, innerhalb von vierundzwanzig Stunden, führt. Sollte das Baby doch noch am leben sein, nach der Entbindung, was hin und wieder vorkommt, wird es entweder vom abtreibenden Arzt erdrosselt oder einfach zum Sterben liegengelassen.“ Karl rang mit seinen Gefühlen. Miriam schaute ihn fassungslos an. „Wie kann es soetwas geben, wie können Menschen sowas zulassen , wie können Menschen soetwas nur tun?“ fragte sie mit zitternder Stimme. „Das ist eine berechtigte Frage“, antwortete Karl. „Man muss sich als Mensch schämen und möchte an der Welt verzweifeln. Und die Mehrheit der Menschen weiß nichts davon, obwohl es offen vor ihnen geschieht. Doch die meisten wollen es irgendwie auch nicht wissen, was da täglich hunderttausendfach geschieht. Mich erinnert es an die Hinmordung der Neugeborenen unter König Herodes.“ „Bitte...erzähl weiter“, bat Miriam leise. „Nun, in diesem Fall war nun alles anders. Nicht nur, dass das Baby trotzdem lebend zur Welt kam, es hatte offensichtlich auch einen unbändigen Lebenswillen. Das entscheidende aber war, dass der diensthabende Arzt jener Abtreibungsklinik gerade Pause hatte. Ob die Schwester nun einfach überfordert war, mit der Situation allein dazustehen, oder ob sie es moralisch nicht bewältigen konnte,... dies wird wohl ihr Geheimnis bleiben. Jedenfalls rief sie einen Notarztwagen, der das Neugeborene in eine städtische Klinik brachte. Das Baby war in einem sehr kritischen Zustand, überlebte jedoch. Es behielt starke Behinderungen zurück. Zunächst kam es zu einer Pflegefamilie, die es aber wieder abgeben wollte, da sie mit den Behinderungen nicht umgehen konnte. Schließlich konnten andere Pflegeeltern gefunden werden, die das Kind sofort in ihr Herz schlossen. Die Behinderungen waren wirklich schwer und viele Leute aus dem Umfeld meinten, dieses Kind würde nie ein normales Leben führen können, weil es unter anderem den Kopf nicht heben, und die Beine nicht bewegen konnte. Die Leute meinten, es würde niemals gehen und ein selbstständiges Leben führen können.“ Karl sah, dass Miriam die Tränen über die Wangen liefen und streichelte ihr mit dem Daumen über den Handrücken. Auch ihm schoss jetzt das Wasser in die Augen. Vor diesem Moment hatte er sich immer gefürchtet, wo er ihr diese Geschichte würde erzählen müssen. Miriam begann ruckartig zu schluchzen, schaute Karl an, schaute Ellen an, und fing nun an zu Weinen, dass es Karl und Ellen fast das Herz zerriss. In diesem Moment wusste Karl, dass Miriam begriffen hatte; es handelte sich bei jenem Baby um sie selbst. Ellen nahm sie in die Arme, drückte sie an sich, streichelte ihr über den Hinterkopf und fing nun auch selber zu weinen an. „Ja, Miriam, dieses Baby warst du“, sagte Karl, und legte ihr behutsam eine Hand auf den Rücken, als könne er ihr damit irgendwie Halt geben. „Ja, und du hast gekämpft, weißt du noch?“ fragte er sie. Es war so schön zu sehen, wie du nicht aufgabst und Stück für Stück dir das Leben erkämpft hast, das dir andere verwehren wollten; als wolltest du es allen Zweiflern beweisen. Und du hast es ihnen bewiesen. OK, das Humpeln und die hin und wieder auftretenden Gleichgewichtsstörungen werden wohl bleiben, aber schau dich an, Schatz, du bist ein so hübsches Mädchen, und alle Leute mögen dich. Wir sind damals mit dir weit weggezogen, hierher, in diese Stadt, und niemand außer unserer Familie kennt hier deine Geschichte. Du allein entscheidest, wie du damit umgehst, und ob jemand davon erfährt oder nicht. Ja, du bist, allen Unkenrufen zum Trotz, in der Lage ein selbstständiges Leben zu führen, und das macht uns so stolz.“ Karl wusste nicht, ob Miriam, die ihr Gesicht auf Ellen´s Schulter presste und hemmungslos heulte, ihn überhaupt hörte, aber er sprach trotzdem weiter. „Nicht nur, dass du diesen Kampf gewonnen hast, nein, du bist auch ein so wundervoller Mensch geworden. Du warst von Anfang an unser Sonnenschein, und das wirst du auch immer bleiben. Auch wenn wir dich adoptiert haben, du bist unsere Tochter, und du bist ganz tief in unseren Herzen drin.“ Als sich Miriam ein wenig gefangen hatte, löste sie ihren Kopf von Ellen´s Schulter und lehnte sich zurück. Ellen wischte sich ihre Tränen weg. „Wissen Kevin und Sarah auch davon?“ fragte Miriam schluchzend. „Nein, Onkel Christian und Tante Charlene haben es ihnen nie erzählt. Aber selbst wenn; so wie die beiden an dir hängen wäre es für sie völlig unbedeutend. Schade, dass sie nicht kommen, ihre Gesellschaft wäre jetzt gut für dich“, sagte Ellen. „Wie konnte diese Frau das nur tun, wie konnte sie ihr Kind, wie konnte sie mich einfach ermorden lassen?“ fragte Miriam, und wischte sich mit den Händen über die rotgeweinten Augen. „Diese und ähnliche Fragen stellen sich viele Menschen, nicht nur hier, auch anderswo in der Welt“, antwortete Karl. „Wieso habe ich das überlebt?“ „Tja“, sagte Karl, und zuckte mit den Schultern. „Du bist eine Kämpferin, aber das hätte dir natürlich auch nicht viel geholfen, wenn an jenem Heiligabend der abtreibende Arzt nicht in diesem Moment gerade eine Pause gemacht hätte. Warum das so war, und warum die Schwester einen Notarztwagen rief? Keine Ahnung.“ „Ein Wunder“, sagte Ellen. „Und für dieses Wunder danke ich Gott. Du bist die Tochter die wir uns immer wünschten“, fügte sie hinzu. „Wir konnten leider keine eigenen Kinder kriegen, aber eine bessere Tochter wie dich können sich Eltern nicht wünschen.“ Als wolle er damit Ellen´s Worte unterstreichen, strich Karl Miriam über die Wange. „Der größte Triumph des Lebens an jenem Tag war, dass der Abtreibungsarzt, also der Mann, der dich eigentlich töten wollte, am Ende noch deine Geburtsurkunde unterschreiben musste. Wenn es nicht so traurig wäre, müsste man darüber lachen.“ „Wie können Menschen soetwas nur zulassen?“ wiederholte Miriam ihre Frage. Wieder fing sie zu weinen an. All die Jahre hatte sie nie gefragt, warum sie diese Behinderungen hatte, sie hatte es einfach akzeptiert. Und anstatt zu jammern, hat sie das Gehen gelernt, Schritt für Schritt, Tag für Tag. Sie hatte nicht eher Ruhe gegeben, bis sie ihren Kopf normal bewegen konnte. Sie hat sich ihren Körper zum größten Teil zurückerkämpft; bis auf das Humpeln und die Gleichgewichtsstörungen ab und an, hatte sie alle Behinderungen bezwungen. All die Jahre wurde sie immer wieder von dem gleichen Albtraum gepeinigt, und hatte keine Ahnung gehabt, dass der mit den Behinderungen in direktem Zusammenhang stand. Jetzt erfuhr sie, dieser Albtraum war in Wirklichkeit eine Art Erinnerungsszenario zu einem Ereignis, aus dem ihre schweren Behinderungen resultierten. Sie hatte zu akzeptieren, dass ihre leibliche Mutter ihr das angetan hat, und Karl und Ellen nicht ihre leiblichen Eltern waren. Karl legte einen Arm um sie, und Miriam legte ihren Kopf auf seine Brust. „Sie mal, dort, unter dem Christbaum, in der Krippe. Da liegt das Jesuskind. Es hat überlebt, obwohl König Herodes es töten lassen wollte. Und um die Krippe herum, da stehen die Hirten und schauen liebevoll auf das Kindlein. Und da kniet Joseph daneben, und auch er schaut liebevoll auf das Kind. Obwohl er nicht sein leiblicher Vater ist, nimmt er es an, als wäre es sein eigenes. Und so wirst du für uns auch immer unsere Tochter sein. Du hast dich stets zu Gott und Jesus bekannt, und ich denke, du tust gut daran, wenn du daran festhältst. Vielleicht hat Gott an jenem Tag seine Geduld verloren, die von den Menschen immer wieder sehr strapaziert wird. Er möchte, dass die Menschen von alleine Erkenntnis gewinnen, ohne dass er sie dahin zwingen muss. Doch als ausgerechnet an jenem Tage, an einem Heiligabend, ein Kind getötet werden sollte, da hat er vielleicht ein wenig eingegriffen. Vielleicht hat er dich auch für etwas besonderes vorgesehen. Aber das sind nur Überlegungen deines Vaters. Ich habe mir darüber all die Jahre schon so oft den Kopf zerbrochen. Und es ist schon eigenartig, dass du die Frage ausgerechnet auch an einem Heiligabend gestellt hast, noch dazu an deinem achtzehnten Geburtstag. Ich denke, wenn es so ist, dass Gott seine Hand über dich hält und eine besondere Aufgabe für dich hat, dann wird er dir das zu erkennen geben.“ „Ich bin also ein Mensch, den es eigentlich gar nicht geben dürfte“, sagte Miriam. „Das darfst du nicht sagen“, erwiderte Ellen und streichelte ihr übers Haar. „Deine Mutter hat Recht“, sagte Karl, „du bist so vielen Menschen ein Sonnenschein. Immer wieder bekommen wir es von Leuten gesagt, was für ein liebenswertes Mädchen du doch bist. Sie sprechen mit höchster Anerkennung von dir, von deiner Freundlichkeit, deiner Fröhlichkeit, deinem Charme, deiner Hilfsbereitschaft und deinem Mitgefühl. Und wenn man bedenkt, dass Mark, der Schwarm aller Mädchen hier im Viertel, immer nur mit dir ausgehen will...“ Karl grinste bei diesen Worten und deutete zärtlich ein Kneifen in Miriams Wange an. Draußen begannen wieder die Glocken zu läuten. „Was meint ihr, sollen wir ein wenig auf den Balkon gehen und Glocken, Schnee und Sternenhimmel genießen?“, fragte Karl. Er schaute runter auf Miriams Gesicht, das immer noch auf seiner Brust ruhte. „Hm, was meinst du, Sonnenschein?“ hakte er nach. Er nahm ein Nicken Miriams wahr. „Und danach werde ich mich ums Essen kümmern“, meinte Ellen, strich Miriam nochmal zärtlich über die Wange, stand auf und öffnete die Balkontür. Eiskalt wehte die Winterluft herein. Ellen holte Jacken für alle drei, und nachdem sie sie angezogen hatten, gingen sie auf den Balkon hinaus. Da dieser vertieft in der Hausfront lag, war nicht allzuviel Schnee auf ihm niedergegangen. „Was für ein herrlicher Anblick“, sagte Karl, und sog tief die klare Luft ein. Karl und Ellen nahmen Miriam in ihre Mitte und legten jeweils einen Arm um sie. Zwischen ihren Beinen huschte ein schwarzer Schatten vorbei, Mikesch, der die Gelegenheit nutzte und draußen mal nach dem Rechten sah. Vor ihnen breitete sich ein traumhafter Anblick aus. Hecken, Büsche, Straßen, Autos, alles war komplett unter Unmengen von Schnee begraben, einfach nicht mehr wahrnehmbar. Von den Straßenlaternen ragte nur noch die obere Hälfte heraus, und ihr Licht färbte diese Winterwelt, entlang der Straßen, in feierliches Goldgelb. Durch den starken Schneefall funkelten die Sterne vom nächtlichen Weihnachtshimmel, und zwischen den Fassaden der Häuser hindurch, deren Dächer dick bedeckt waren, drang das festliche Geläut der Kirchenglocken zu ihnen. „Ist das nicht wunderbar; ist das nicht einfach Märchenhaft?“ sagte Ellen. „Wie lange schon wünscht du dir eine weiße Weihnacht“, sagte Karl, und schaute Miriam lächelnd an. „Dass es gerade diese Weihnacht so kommt, und dann auch noch dermaßen heftig, das gehört wohl auch dazu“. Karl wusste selber nicht, ob er das so glaubte, was er da erzählte, aber musste und wollte es Miriam leichter machen, zu akzeptieren, was sie da soeben erfahren hatte. „Vielleicht...“, sagte Miriam, wieder sich Tränen abwischend. „Ja? Was vielleicht?“, fragte Karl. Und auch Ellen fragte, „was denn Schatz?“ „Vielleicht hat Gott mich gerettet, damit mein Schicksal die Menschen wachrüttelt, dass es soetwas nicht geben darf, dass Kinder legal getötet werden.“ In diesem Augenblick wusste Karl, dass Miriam nicht daran zerbrechen würde. Da war sie wieder, die Kämpferin, und eine Last fiel von seinem Herzen ab. Ein Blick zu Ellen, und ihr Lächeln, zeigten ihm, auch sie hatte dies soeben erkannt. Auf diesen Gedanken waren weder er noch Ellen jemals gekommen. „Ja, Sonnenschein, dass ist durchaus möglich, es ist sogar wahrscheinlich“, erwiderte er. Nach einer Zeit gemeinsamen Schweigens sagte Karl dann: „Auch wenn dieser Jahrhundertwintereinbruch verhindert hat, dass Onkel Christian und Tante Charlene mit den Kindern zu uns kommen, und somit unsere ganze Planung hinfällig ist, so ist dies ist zwar bedauerlich, aber nicht zu ändern“. „Es ist Gottes Wille, also ist es gut so“, erwiderte Miriam. Ellen war immer froh, dass der Glaube und das Bekenntnis zu Gott und Jesus Miriam auch immer Halt gegeben haben, und sie spürte in diesem Augenblick, dies würde auch in Zukunft so sein, und es war auch nie so wichtig wie gerade jetzt. „Sollen wir wieder?“ fragte Karl. Miriam nickte. Kaum öffnete Ellen die Balkontür, flitzte Mikesch geschwind in die warme Stube, als hätte er Angst, er könnte ausgesperrt werden. Als alle wieder drinnen waren, schloss Ellen die Tür und von diesem Moment an nahm ein Heiliger Abend seinen Verlauf, der so ganz anders war als geplant, und der ein neues Kapitel im Leben Miriams einleitete, aber auch in dem von Karl und Ellen, weil diese nun kein Geheimnis mehr belastete. ENDE

Dienstag, 6. Dezember 2011

DAS LACHEN EINES BABYS (Betrachtung)

Da öffnet man ein Video auf youtube und sieht ein Baby auf einem Sessel sitzen. Die Hände eines erwachsenen Mannes (wahrscheinlich der Vater) erscheinen im Bild, falten vor dem Baby ein Blatt Papier auseinander und reissen es durch, worauf das Baby mit einem herzaften Lachen reagiert. Immer wieder reissen die Hände ein Stück vom Papier ab, und immer ansteckender wird das herrliche Lachen dieses Babys. Zwischendurch hört man auch die Stimme eines Mannes, wahrscheinlich die des Mannes, wie auch sie von diesem Lachen angesteckt wird. Es ist wirklich ein Video das zu Herzen geht und in einem etwas öffnet, ein Fenster in die Vergangenheit, zu der eigenen Kindheit. Das Video trägt den Titel "Wer schafft es 30 Sekunden nicht zu lachen -- Baby laughing"...ich jedenfalls schaffe es nicht. :-) Hier der Link zum Video: http://www.youtube.com/watch?v=bHPK7Uh0bIo